Braucht Menschenrechts-Aktivismus nachhaltiges Projektmanagement? | Ein Exklusiv-Beitrag mit Elias Bierdel

Wenn man an Menschenrechte und an Aktivisten denkt, die zum Teil unter Einsatz ihres Lebens daran arbeiten, diese durchzusetzen, ist Projektmanagement nicht unbedingt das Erste, was einem dazu einfällt. » Elias Bierdel, Journalist, Autor und ehemaliger Cap-Anamur-Chef, ist solch ein Aktivist. Er ist bekannt aus vielen Projekten, in denen der Kampf um Menschenrechte und Gerechtigkeit eine zentrale Rolle spielen. Und er hat aus seinen Erfahrungen heraus durchaus Wichtiges, Überraschendes und Provokantes zum Thema Projektmanagement und vor allem zu nachhaltigem Projektmanagement zu sagen. Seine Thesen zu diesem Thema – inklusive der dahinterstehenden Geschichten aus seinem ereignisreichen Leben – hat er uns im Gespräch verraten.

Bei Plänen und Projekten das Ziel im Auge behalten

Menschen helfen zu wollen, stößt oft auf unterschiedlichste Hindernisse. So standen wir bei unserem Vorhaben, Anfang der 2000er Jahre den hungernden Menschen in Liberia Lebensmittel zu bringen, vor massiven Problemen, Transportmittel für die Ladungen zu finden: „Sie wollen mein Schiff chartern, um Lebensmittel ins Kriegsgebiet zu transportieren? Wir sollen an einer Küste anlanden, die voller hungernder und bewaffneter Menschen ist? – Ganz sicher nicht. Nicht mit meinem Schiff und nicht mit meiner Mannschaft.“

Unser Vorhaben wegen dieser Hindernisse aufzugeben, kam nicht in Frage. Also planten wir um: Wenn man kein Schiff chartern konnte, musste eben ein eigenes her. So kam es, dass die Cap Anamur gekauft wurde und sich auf den Weg Richtung Westafrika machte, um zu helfen. Mit ziemlichem Aufwand war es uns sogar gelungen, dass sie unter einer eigens für sie eingeführten Schiffsklasse fuhr. Die Schiffsklasse signalisierte, dass es sich um ein nicht kommerziell genutztes Schiff handelt, sondern um eines, das ausschließlich für humanitäre Projekte eingesetzt wird.

First Aid Projekte und Projektmanagement widersprechen einander? Zu kurz gedacht!

Naturgemäß haben First Aid Projekte in der Regel keine Vorlaufzeit. Man leistet Hilfe in akuten Notfall-Situationen. Insofern ist es tatsächlich kaum möglich, für einzelne Projekte vorab ein Projektmanagement aufzusetzen.

Sehr wohl möglich und unbedingt empfehlenswert ist es für Organisationen, die auf First Aid spezialisiert sind, grundsätzlich den Rahmen und die Strukturen für die einzelnen Projekte und die Ermöglichung von Nachhaltigkeit zu schaffen:

  • Es gilt, die Organisation insgesamt zu positionieren, ihre Werte und Philosophie zu definieren. An diesen entlang wird dann von Fall zu Fall entschieden, ob ein Projekt übernommen wird oder nicht. Bei Cap Anamur galt es also zum Beispiel, immer im Einzelfall zu überprüfen, ob unser Grundsatz der radikalen Humanität im Fall eines Einsatzes eingehalten werden konnte.
  • Es sollte sichergestellt sein, dass Personen aus der Organisation schon vor dem akuten Einsatz vor Ort waren und berichten können, ob und wie dort überhaupt geholfen werden kann.
  • Neben den Strukturen müssen die personellen Ressourcen in quantitativer und qualitativer Hinsicht bereitstehen: Sind genug Menschen parat, um zu helfen? Sind sie kompetent und qualifiziert genug? Sind sie gut genug auf die Einsätze vorbereitet? Kennt man sie gut genug, um einschätzen zu können, ob sie die Aufgaben bewältigen können?
  • Ist bei allen – der Organisation selbst und den in ihr tätigen Menschen – die Risikobereitschaft hoch genug, um überhaupt tätig werden zu können? Denn wenn die Sicherheit auf 100 gesetzt wird – und das habe ich zigmal erlebt –, ist man handlungsunfähig. Wenn die eigene Sicherheit immer das erste Ziel ist – wie teilweise bei der UNO, ganz sicher aber bei der Bundeswehr –, geht die Aktivität zwangsläufig auf null.
  • Um aus einem Projekt lernen zu können und ihm Nachhaltigkeit zu verleihen, ist viel Dokumentations-Arbeit nötig. In akuten Notsituationen ist es schwierig genug, alles später Wichtige zu notieren. Umso wichtiger ist es, dass vorher klar ist, was wie dokumentiert werden muss und dass die Helfer geübt darin sind.

Wenn Du das Leben zum Lachen bringen willst, mach Pläne

Pläne und Projektmanagement sind also sehr wichtig. Aber so manches Mal wirft das echte Leben alles über den Haufen. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist die Rettungsaktion der Cap Anamur, die durch alle Medien ging: Wir waren im Juli 2004 mit dem Schiff auf dem Weg in den Irak, um Hilfsgüter dorthin zu bringen. Und mitten im Mittelmeer stießen wir auf ein Schlauchboot mit defektem Motor und 37 schwarzafrikanischen Flüchtlingen. Wir retteten sie und durften nach Wochen endlich in Sizilien an Land gehen – der Rest ist Geschichte: Kapitän Stefan Schmidt, der 1. Offizier und ich wurden wegen Beihilfe zur illegalen Einreise, also wegen „Schlepperei“ festgenommen und erst nach einem fünfjährigen Prozess freigesprochen. Die Flüchtlinge wurden samt und sonders in ihre Heimatländer zurückgeschickt.

In solchen unplanbaren Ad-hoc-Situationen helfen natürlich auch kein Plan und kein Projektmanagement. Was nichts daran ändert, dass sie in vielen anderen Situationen sehr hilfreich sind.

Soll ein Projekt nachhaltig Bestand haben, übergib es an Frauen

Diese These mag diskriminierend gegenüber Männern klingen, deckt sich aber mit meinen Erfahrungen. Im Rahmen der Jubiläumswoche von Cap Anamur haben wir feststellen lassen, wo wir überall waren und was von den Projekten noch übrig ist. Bei dieser Bestandsaufnahme haben wir ein erstaunliches Phänomen festgestellt, das mir seitdem immer wieder begegnet: Entweder haben sich Frauen nach unserem Weggang der jeweiligen Sache angenommen oder das Projekt gab es nicht mehr. Dieses Phänomen stellten wir mit einer hundertprozentigen Trefferquote fest.

Diese Erkenntnis hat sich mir so sehr eingeprägt, dass ich seitdem viel stärker darauf achte, Frauen zu empowern. Deshalb sorge ich nun auch immer dafür, dass zuerst eine Mädchenschule gebaut wird oder Ähnliches. Damit das Staffelholz nach dem Abgang der Ersthelfer in kompetente Hände übergeben werden kann.

Extrem nachhaltig arbeitet das Unterbewusstsein – zum Beispiel, wenn es um deine Motive geht

Apropos Nachhaltigkeit: An mir selbst habe ich bemerkt, dass uns unser Unterbewusstsein sehr stark prägt. Nach der Cap-Anamur-Geschichte, aber auch schon zuvor im Kosovo und in Bosnien, habe ich realisiert, dass etwas in mir furchtbar revoltiert gegen Ungerechtigkeit und vor allem dagegen, dass Menschen mit Mauern, Stacheldraht und so weiter daran gehindert werden, von hier nach dort zu gehen. Und plötzlich wurde mir klar, dass das Phänomen „auf der Flucht sein“ auch in meiner Familie vorkam, dass ich also selbst davon betroffen war. Denn meine Eltern waren ja DDR-Flüchtlinge, und ich selbst bin quasi neben der Berliner Mauer groß geworden.

Nun ist das Schicksal des Flüchtlings in einer Nation wie Deutschland, in der es von Vertriebenen und Geflüchteten wimmelt, nichts Besonderes, und viele, viele andere hat es viel härter getroffen als mich. Und bis zu diesem Aha-Moment war diese Tatsache nie ein großes Motiv für mich und mein Leben gewesen. Aber dann habe ich plötzlich gemerkt, dass das Thema „Flucht“ und „eingesperrt sein“ eben auch mich direkt betrifft. Mir wurde klar, dass das sicher eine – wenn auch bis dahin unbewusste – Motivation für mich ist, mich bis heute aktiv gegen jede Ungerechtigkeit zu wehren.

Eine Lektion, die sich aus dieser Kraft des Unterbewussten vielleicht für nachhaltiges Projektmanagement ziehen lässt: Finde die tiefsitzenden Motive und appelliere an diese, um Menschen dazu zu bewegen, mit viel Engagement an einem Projekt dranzubleiben.

Nachhaltigkeit kann es nur geben, wenn Entwicklungen und ihre Ursachen mutig zu Ende gedacht werden

Wenn wir wirklich etwas bewegen wollen, dürfen wir nicht mit populistischen Aktionen arbeiten, die zu kurz gedacht sind, um wirklich etwas zu verändern. Wir müssen die Verursacher von massiven Problemen auftun, und diese müssen etwas Grundsätzliches ändern. Beschrieben an zwei Beispielen bedeutet das konkret:

Mit bestimmten Hilfsaktionen zementiert man im Prinzip jene Unrechtsverhältnisse, gegen die man eigentlich angehen möchte. Das Bild eines kleinen, schlecht genährten Mädchens mit der Bildunterschrift „Die kleine Siba. Sie hätte so gern einen Brunnen.“ sammelt zwar akut Spenden ein, ist prinzipiell aber sehr zynisch gedacht. Natürlich brauchen die Menschen in den Schwellenländern und Entwicklungsländern Brunnen, aber das ist so selbstverständlich, darüber sollte man gar nicht mehr reden. Warum haben wir für diese Menschen keine anderen Ziele zu formulieren, als dass sie Trinkwasser bekommen? Sie brauchen Breitbandanschluss, sie brauchen Bildung, damit sie sich selbst um ihre Wasserversorgung kümmern können. In solchen Aktionen erkenne ich eine Haltung, die ich zutiefst verabscheuungswürdig finde.

Auf der Cap Anamur hatten wir zwei Seeleute aus Tuvalu, einem Pazifik Atoll. Tuvalu ist der kleinste aller UN-Mitgliedstaaten und einer der ersten Staaten, die infolge des Klimawandels untergehen werden. 12.000 Einwohner – und ihre Heimat verschwindet weiß Gott ohne ihr eigenes Verschulden. Die Verantwortlichen sind bekannt. Und entweder wir schaffen es anhand dieses Beispiels, eine Lösung zu finden, die Mechanismen aufzudecken und die Verantwortlichen finanziell und in jeder anderen Hinsicht in die Pflicht zu nehmen, oder wir verlieren das Projekt Menschheit und Menschlichkeit – was dann eben nicht nachhaltig war.

 

Kurzbiografie:

Als Leiter der NGO Cap Anamur war Elias Bierdel 2004 an der Rettung von 37 schiffbrüchigen Afrikanern im Mittelmeer beteiligt. Bierdel wurde auf Sizilien festgenommen, der „Schlepperei“ angeklagt und erst im Oktober 2009 wieder freigesprochen. Ab März 2010 war er Leiter internationaler Ausbildungskurse für UN-Mitarbeiter in Wien. Im Sommer 2015 startete er die Hilfsaktion Proti Stassi für Flüchtlinge auf der Insel Lesbos. Derzeit leitet Bierdel ein regionales Projekt zur Integration von Geflüchteten in seiner Wahlheimat Österreich. Er ist Mitbegründer von borderline europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V. (Berlin).

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