Die Führung ist tot? Es lebe die Führung!

– Tiba Magazin 2023 –

Die Kritik am Bundeskanzler reißt nicht ab. Laut einigen Presseorganen, der Opposition und Teilen der Bevölkerung führt er angeblich zu wenig und überlässt es seinen Ministern, die Richtung vorzugeben. Diese Kritik zeigt sich zunehmend auch in der Wirtschaft, im privaten Umfeld und in den aktuellen Projekten, die uns beschäftigen. 

Ist die Führung also am Ende? Nein, jedoch befindet sie sich in einem deutlichen Wandel und erscheint in einem völlig neuen Licht. Dieser Beitrag thematisiert die Veränderungen, erläutert die Gründe dafür und beschreibt die neuen Formen der Führung, die derzeit entstehen und in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen werden. Dabei liegt unser Fokus nicht auf einem umfassenden Bild oder wissenschaftlicher Tiefe, sondern auf eigenen Erfahrungen, die wir selbst oder bei unseren Kunden machen. Diese Erfahrungen ergeben ein Muster, das für uns von großer Bedeutung ist. 

Wie entwickelt sich Führung und welche Ursachen stecken dahinter? 

Wenn wir von Führung sprechen, haben wir oft ein überzeichnetes Bild von starken Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Barack Obama, Wolodymyr Selenskyj oder Elon Musk, die anscheinend wissen, wo es langgeht, die Richtung und Tempo vorgeben und denen alle bereitwillig folgen. Gute Führung soll, wie der Managementvordenker Fredmund Malik es einmal formulierte, für Ziele sorgen, organisieren, entscheiden und kontrollieren sowie die Menschen entwickeln und fördern. Doch Führung findet immer in einem Kontext statt, der Einfluss darauf hat, wie geführt werden kann. So erleben wir derzeit in autokratischen Herrschaftssystemen, wie Führung manipuliert, Menschen verführt oder in ihren Möglichkeiten einschränkt und damit genau die Antithese unseres heutigen Führungsverständnisses in einem demokratischen System darstellt. Denn wir wollen ja alle mitreden, mitgestalten und uns nicht durch jemanden in unseren Freiheitsrechten einschränken lassen. Dennoch rufen wir, wenn es schwierig wird, nach Führung und beschweren uns, wenn sie nicht sofort und in dem Maße ausgeübt wird, wie wir es uns wünschen. Dies lässt sich gut an den Entwicklungen im Projektmanagement beobachten. Ursprünglich war Projektarbeit eindeutig in die Hierarchie eines Unternehmens eingeordnet, wobei eine Projektleitung das Team führte und klare Ansagen machte. Mit der agilen Arbeitsweise hat sich das verändert: Es gibt keine Projektleitung mehr, und es wird zunehmend auf Selbstorganisation und -führung des Teams gesetzt. Dennoch braucht es auch in agilen Projekten bestimmte Rollen, die Führung ausüben, sonst macht jeder, was er will, und es wird schwer, das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Führung verflüssigt sich, wird von einer Person auf mehrere Schultern verteilt, je nach Anforderungen im Projekt und den beteiligten Personen. 

Was sind die Ursachen für die Verflüssigung der Führung?  

Die Anforderungen an Führung sind sehr vielschichtig und veränderlich. Eine einzelne Person ist schnell überfordert, die Gesamtheit dieser Anforderungen allein zu bewältigen. Werden mehrere Personen in den Führungsprozess eingebunden, sind verschiedene Perspektiven und Erfahrungen verfügbar, was zu besseren Lösungen führt. Moderne Technologien ermöglichen es, eine Vielzahl von Informationen und Beteiligten über verschiedene Grenzen hinweg in Echtzeit einzubinden. So ermöglichen Digitalisierung, Automatisierung und künstliche Intelligenz heutzutage eine ideale Informationsgrundlage für die Beteiligten und befähigen so alle, Führungsaufgaben zu übernehmen. Gesellschaftlich ist eine dominante oder autoritäre Führung heute eher verpönt. Gerade die junge Generation möchte mitreden, mitentscheiden und mitgestalten, sonst sucht sie sich einfach ein anderes Betätigungsfeld. Das führt dazu, dass sich Führungsstile ändern, die Führung vom Team übernommen bzw. das ‚Laisser-faire‘-Prinzip von den Führungskräften praktiziert wird.

Wer wird in Zukunft wann und wie führen? 

Die zunehmende Komplexität von Führungsaufgaben hat dazu geführt, dass Führung immer weniger durch vorab festgelegte Führungsrollen definiert ist, sondern stattdessen im Zuge der Aufgaben, Projekte oder Unternehmungen von einer Person zur anderen wechselt. Dabei wird die Führungsrolle an diejenige Person übertragen, die über die geeigneten Fähigkeiten und Erfahrungen für die aktuelle Situation verfügt. In der Bundesregierung beispielsweise leitet das jeweils zuständige Ministerium je nach Themenbereich – ob Wirtschaft, Gesundheit oder Verteidigung – und nicht der Bundeskanzler, der nur im Falle eines Streits eingreifen würde. Vor Beginn eines Projekts oder einer Projektphase sollten die notwendigen Kompetenzanforderungen für die Aufgabenbewältigung und Führung geklärt werden. Ein Entwicklungsteam kann am besten selbst entscheiden, wer den Entwicklungsprozess moderiert, koordiniert oder leitet, abhängig von der Komplexität der Aufgabe und der Teamstruktur. Es werden keine autoritären Machtstrukturen oder Fachwissen benötigt, sondern Metakompetenzen, um in komplexen und dynamischen Situationen Zusammenarbeit zu fördern. Die Führung ist partizipativ, empathisch und unterstützt die oder den Einzelne:n bei der Aufgabenerledigung, beispielsweise in Scrum durch den „Scrum Master“. Führung ist besonders gefordert in kritischen Situationen, aber auch in Alltagssituationen. Die ’neue Führung‘ erfordert, dass wir unser aktuelles Bild von Führung verändern. Führungskräfte müssen in der Lage sein, „loszulassen“ und Vertrauen in diejenigen zu haben, die bisher wenig Führungserfahrung haben. Es braucht Gestaltungsspielraum und Unterstützungsangebote wie Schulungen, Coaching und Mentoring. 

Die ’neue Führung‘ erfordert auch neue Organisationsformen, wie etwa das „Unlearning Hierarchy“ (Keil & Vonier, 2022), „Postbürokratisches Organisieren“ (Muster et al., 2021) und experimentelle Organisationsformen wie „Holacracy“ (Robertson, 2016) oder „Decentralized Autonomous Organization (DAO)“ (Kandzia, 2023). 

Fazit und Ausblick 

Führung ist nicht am Ende, sie verändert sich nur deutlich. Aufgrund von Komplexität, Dynamik und Unsicherheit wird es in Zukunft sogar mehr Führung brauchen. Sie wird jedoch nicht mehr nur an eine kleine Gruppe von Personen im Unternehmen gebunden sein, sondern sich immer weiter aufteilen, auf alle Beteiligten im Unternehmen. Diese müssen jedoch zunehmend auch die Bereitschaft und die Kompetenz aufbringen, um in bestimmten Situationen in Führung zu gehen. Dies muss in der Organisation nicht nur zugelassen, sondern auf eingefordert sowie gefördert werden. Am ehesten werden die neuen Führungsmodelle abseits der klassischen Linie in Projekten ausprobiert. Die agilen Ansätze sind hier nur der Auftakt zu mehr Emanzipation in Richtung Selbstorganisation und -führung. Erfolgreich angewendet in den Projekten, übt das zukünftig verstärkt Druck aus auf die Führungsmodelle in der restlichen (Linien-)Organisation. Welche Organisationsmodelle sich dabei letztlich durchsetzen werden, ist unklar und spielt bei der Frage nach der Führung auch nicht die zentrale Rolle. Führung wird zukünftig jedenfalls deutlich verteilter stattfinden, unter Einbindung aller notwendigen Kompetenzen und in Balance zwischen fachlicher Aufgabenerledigung und der Ausgestaltung von Zusammenarbeit (Müller et al., 2022). 

 

Cover des Tiba Magazin 2023

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Autor

Foto von Prof. Dr, Reinhard Wagner

Prof. Dr. Reinhard Wagner

Prof. Dr. Reinhard Wagner studierte Elektrotechnik sowie Betriebswirtschaft in Deutschland und den USA. Auf Basis von mehr als 30 Jahren Führungs- und Projekterfahrung unterstützt er Projektmanager, -teams sowie projektorientierte Organisationen als Berater, Trainer und Coach. Bei der Tiba Managementberatung GmbH ist er seit Juli 2017 Geschäftsführer, seit 2023 hat er nun auch die Geschäftsführung der Tiba Group Services übernommen. Darüber hinaus engagiert er sich seit vielen Jahren bei der Entwicklung nationaler wie internationaler Standards und veröffentlicht zahlreiche Bücher, Artikel sowie Blog-Beiträge zum Projektmanagement. Reinhard Wagner ist ehemaliger Präsident der IPMA International Project Management Association und Ehrenvorsitzender der GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e.V..

Literatur

  • Bauman, Z. (2018). Liquid Times. Living in an Age of Uncertainty. Cambridge, Polity Press. 
  • Kandzia (2023). Künstliche Intelligenz & Blockchain. Eine neue Ära der digitalen Innovation. Lüdenscheid, Independently Published.   
  • Keil, L. & Vonier, D. (2022). Unlearning Hierarchy. Expedition in die Selbstorganisation. München, Franz Vahlen Verlag.  
  • Malik, F. (2018). Führen Leisten Leben: Wirksames Management für eine neue Welt. 3. Edition, Frankfurt a.M., Campus Verlag. 
  • Müller, R., Drouin, N. & Shankar, S. (2022). Balanced Leadership. Making the best Use of Personal and Team Leadership in Projects. Oxford, Oxford University Press.  
  • Muster, J., Bull, F.-R. & Kapitzky, J. (2021). Postbürokratisches Organisieren. Formen und Folgen agiler Arbeitsweisen. München, Franz Vahlen Verlag.  
  • Permantier, M. (2019). Haltung entscheidet. Führung & Unternehmenskultur zukunftsfähig gestalten. München, Franz Vahlen Verlag.   
  • Robertson, B. J. (2016). Holacracy. Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. München, Franz Vahlen Verlag. 
  • Schröder, C. & Oestereich, B. (2023). Essenzen agiler Organisationsentwicklung. Das Wichtigste zu kollegialer Führung. München, Franz Vahlen Verlag. 
  • Stöwe, C. & Keromosemito, L. (2013). Führen ohne Hierarchie – Laterale Führung. Wie Sie ohne Vorgesetztenfunktion Teams motivieren, kritische Gespräche führen, Konflikte lösen. 2. Auflage, Wiesbaden, Springer Gabler. 
  • Sutherland, L. & Janene-Nelson, K. (2018). Work together Anywhere. A Handbook on working remotely – succesfully – for Individuals, Teams & Managers. Delft, Collaboration Superpowers. 
  • Vollmer, L. (2018). Wie sich Menschen organisieren, wenn ihnen keiner sagt, was sie tun sollen. 2. Auflage, Berlin, Intrinsify.me.