Mit Industrie 4.0 wird unser berufliches Umfeld stärker als je zuvor mit dem Internet vernetzt. Prozesse der Produktentwicklung und Auftragsrealisierung ändern sich dramatisch. Dies stellt auch neue Anforderungen an Projektmanagement – an PM-Methoden, an Projektorganisationsformen und an die Menschen im Projekt. Worauf müssen wir uns einstellen? Und wie können wir diesen Herausforderungen begegnen?
Industrie 4.0, agiles Projektmanagement, Digitalisierung – Themen, die uns alle beschäftigen. Aber auch Schlagworte, die inflationär gebraucht werden.
Worum geht es bei diesen Begriffen? Industrie 4.0 ist die vierte industrielle Revolution, die wir gerade erleben. Es geht dabei um die Integration von Daten, Internet und Maschinen mit dem Ziel der kompletten Automatisierung von Produktions- Verwaltungs- und Dienstleistungsprozessen in Unternehmen. Es geht darum, Daten und Mechanik zusammenzubringen. Diese Entwicklung ist eng mit der Digitalisierung bzw. der digitalen Transformation verbunden: Wir verbinden alle Bereiche unseres Lebens mit dem Internet, verwachsen also privat und beruflich damit. Diese Entwicklung wirkt sich ganz besonders auch auf Projektarbeit in Unternehmen aus.
Was bedeutet dies nun für die Disziplin „Projektmanagement“? Um das zu beurteilen, schauen wir zunächst auf das PM an sich: Projektmanagement hat seit jeher die Aufgabe, Komplexität zu ordnen und aufgrund klarer Strukturen das Projektziel zu erreichen. Dies geschieht bislang sehr geordnet von Meilenstein zu Meilenstein, bis das Projekt schließlich erfolgreich abgeschlossen ist.
In den letzten Jahren hat der Einsatz von „agilem Projektmanagement“ zugenommen. Worum geht es da? Agiliker sagen, dass es bislang bei dem so genannten „Klassischen Projektmanagement“ um das Management von Kompliziertheit ging, während es beim agilen Ansatz um das Management von Komplexität ginge.
Hans-Heinrich Altfeld, Head of Project Controlling ITER,
und Till H. Balser, CEO Tiba, vor dem „Tokamak“
Um diesen Unterschied hat sich ein dogmatischer, aber unnötiger Streit entfacht. Denn die Aufgabe von Projektmanagement ist es schon immer, Komplexität beherrschbar zu machen. Oder würden Sie sagen, dass der ITER-Kernfusionsreaktor, der mit einem Investvolumen von ca. 20 Mrd. Euro derzeit in Südfrankreich gebaut wird, und dessen Planung über einen Zeitraum von 30 Jahren nach rein „klassischen“ Methoden erfolgte, nur ein „kompliziertes“ und nicht ein „komplexes“ Projekt sei? Ich glaube, die Wissenschaftler und Ingenieure dort auf der Baustelle würden den Kopf schütteln. Wo Bauteile über Jahre hinweg auf millimetergenaue Passung bei der Endmontage hin geplant werden, bedarf es auch einer anspruchsvollen Projektplanung, die keinen „Millimeter“ Toleranz erlaubt.
Projektmanagement und Agilität ist allerdings kein Widerspruch, im Gegenteil: Projektmanagement ist seit jeher „agil“, weil es per defitionem eine temporäre Organisationsform darstellt, klar unterschieden von der Starrheit einer festen Linienorganisation. „Agil“ bedeutet, wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt, „schnell“ oder „flink“, und das heißt: Agiles Projektmanagement als eine in den letzten Jahren erfolgte sehr sinnvolle Weiterentwicklung der PM-Disziplin ist also eine besonderes schnelle Form dieses ohnehin schon immer agilen Charakters einer Projektorganisation – man könnte auch sagen „Speedy Project Management“. Und darin liegt auch der eigentliche Wert des agilen Denkens – nämlich, wie kann man Projekte noch schneller und effektiver realisieren. Es geht dabei nicht um ein „entweder-oder“, also „klassisch“ oder „agil“, sondern nur um ein „sowohl als auch“.
Agiles Projektmanagement ist mehr als Scrum
Wenn von agilem Projektmanagement gesprochen wird, geht es meistens um Scrum. Scrum kommt aus dem Rugby und ist ein besonderer, nach klaren Regeln ablaufender Spielzug, den die Beteiligten genau kennen. Jeder führt den anderen, unabhängig von der eigentlichen Rolle, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Dafür kämpfen sie mit einem unbedingten Willen und stehen zu 100 % füreinander ein.
Scrum – als Metapher in der Anwendung für Projekte – hat ebenso genaue Regeln und funktioniert auch nur mit diesen Regeln. Dazu gehört es unter anderem, die Komplexität zu reduzieren: Teams werden von Projektplänen und Zielen befreit, die von den eigentlichen Aufgaben ablenken. Statt weit entfernter Projektziele rücken Arbeitspakete in den Fokus – und damit Ziele, die in vier oder acht Wochen erreichbar sind. Das „Gedränge“ entsteht, in dem das Team unbeeinflusst und ungestört arbeiten kann. Konkret bedeutet dies: Die Teammitglieder können sich ganz auf dieses eine Projekt konzentrieren, ohne von weiteren Aufgaben oder Projekten abgelenkt zu werden. Diese Konzentration im Team beschleunigt beispielsweise Produktentwicklungsprojekte ungemein, zum Teil um 25, 30 oder 50 %.
Unternehmen, die Scrum nutzen, beschäftigen sich gleichzeitig mit ihren Organisationsstrukturen, ihrer Unternehmenskultur und der Frage wie generell effizienter gearbeitet werden kann. Denn Agilität im Projekt funktioniert vor allem da, wo effizient gearbeitet werden kann. Dabei geht es nicht primär um die Reduzierung von Kosten, sondern um einen vernünftigen Umgang mit allen Ressourcen – also auch mit der verfügbaren Zeit der einzelnen Mitglieder des Projektteams.
Um diese Effizienz zu erreichen, setzen agil arbeitende Unternehmen neben Scrum auf die Managementmethoden Design Thinking, Critical Chain Project Management (CCPM), Lean und Kanban. Worum geht es dabei?
Design Thinking ist eine Kreativitätstechnik, die auf David Kelley, Terry Winograd und Larry Leifer von der Stanford University zurückgeht. Ihre Idee: Vor allem interdisziplinäre Teams schaffen echte, herausragende Innovationen. Übertragen auf das Projektmanagement heißt das: Im Team werden Probleme und Herausforderungen am besten gelöst.
Critical Chain Project Management (CCPM) basiert auf den Ideen von Eliyahu M. Goldratts und erweitert das klassische Projektmanagement um zwei Elemente: Vermeidung von schädlichem Multitasking und korrekter Umgang mit Schätzungen sowie deren Streuungen und damit verbundenen Puffern. Mit dieser Methode werden Ressourcenengpässe in Projekten erkannt und radikale Priorisierungen durchgeführt. Damit konzentriert sich ein Unternehmen ausschließlich auf die Projekte, die mit den vorhandenen Ressourcen durchführbar sind – und erreicht so ohne Kostenreduzierung eine echte Wertschöpfung.
Unterstützt wird dies durch Lean. Hier geht es darum, radikal zu verschlanken, Dinge soweit herunter zu brechen, dass sie handhabbar werden.
Kanban kommt als Methode aus der Produktion und bedeutet, übertragen auf das Projektgeschehen, die Optimierung der (fachlichen) Realisierungsprozesse. Dabei werden nur die Ressourcen (Mitarbeiter) und Materialien am Verbrauchsort bereitgestellt, die tatsächlich aktuell benötigt werden. Eine Planung mit unnötigem Puffer oder Leerstand wird dadurch vermieden. Die Projektmitarbeiter haben Transparenz über anstehende Arbeitspakete und Aufgaben und holen sich selbst, in Eigenverantwortung und nach dem „Pull-Prinzip“, sofort die nächsten Aufgaben und warten nicht auf deren Delegation an sie.
Mit diesen Methoden – Scrum, Design Thinking, Critical Chain Project Management (CCPM), Lean und Kanban – wird der Rahmen für Agiles Projektmanagement geschaffen.
Agiles und klassisches Projektmanagement schließen einander nicht aus
In welchen Projekten oder Projektphasen agil gearbeitet wird, wird von Fall zu Fall entschieden. Es gibt in dieser Hinsicht kein Entweder Oder, keine Entscheidung zwischen klassischem oder agilem Projektmanagement. Heute findet man in einigen Unternehmen bereits den „hybriden Ansatz“ dieser gibt genau vor, z.B. durch das PMO, wo und wann „agil“ und wann „klassisch“ gearbeitet wird.
Wir bei Tiba gehen einen wesentlichen Schritt weiter und empfehlen, Projektleiter und Projektteams selbst, in Eigenverantwortung und Selbstorganisation, entscheiden zu lassen, „adaptiv“ entsprechend der aktuellen Notwendigkeiten im Projekt den jeweiligen Methodeneinsatz anzupassen, also selbst zu entscheiden, wann und wie sie „agil“ oder „klassisch“ vorgehen. Es ist möglich, Teams und Projektleiter so zu befähigen, dass sie selbst entscheiden, wann sie klassisch oder agil arbeiten.
Ein solches adaptives Projektmanagement benötigt aber veränderte Rahmenbedingungen des Unternehmens. Die Basisstruktur des firmenspezifischen Projektmanagements, ausgerichtet an den vier Achsen muss weiter gedacht und entwickelt werden.
Abb.: PM4.0 – Adaptives PM durch ganzheitliche Betrachtung
Es geht um die Förderung flexibler, eigenständiger und schnell entscheidender Organisationsstrukturen (Organisation), um die umfassende Ausbildung sowohl in „klassischen“ als auch in „agilen“ PM-Methoden und um die Förderung von Eigenverantwortung und Selbstorganisation (Mensch), um die Schaffung einer adäquaten Methodenvielfalt und Ermöglichung adaptiver Vorgehensweisen (Prozesse & Methoden) sowie um die Schaffung von Transparenz und bestmöglicher Vernetzung im Unternehmen (Technologie).
Die 7 Prinzipien von Projektmanagement 4.0
Worum geht es dabei genau? Was ist als kulturelle Basis im Unternehmen nötig, damit Projektmanagement 4.0 gelingt? Dazu hat Tiba die folgenden 7 Prinzipien erarbeitet, die Orientierungshilfe bieten und als Basis dienen für künftige Qualifizierung von Projektteams und Führungskräften in agil arbeitenden Organisationen:
1. Freiwilligkeit
Damit sich Projektleiter und -mitarbeiter auf das gemeinsame Ziel konzentrieren können, müssen sie freiwillig an dem Projekt mitarbeiten. Wer einfach eingeteilt oder zugeordnet wird, identifiziert sich nicht mit den Projektzielen. Gleichzeitig funktioniert Selbstorganisation am besten, wenn die Individuen im Team freiwillig ihre jeweiligen persönlichen Stärken einbringen.
2. Geschützter Rahmen
Das Team braucht entsprechenden Frei-Raum und eigenverantwortliche freie Zeiteinteilung, um sich, geschützt vor dem Tagesgeschäft und sonstigen Erwartungen außerhalb des Projektes voll auf die Projektziele konzentrieren zu können.
3. Echtes Team
Das Team arbeitet eng zusammen und hat den starken Willen, gemeinsam das Projektziel zu erreichen. Die Mitglieder unterstützen sich dazu gegenseitig, jeder bringt seine Stärken ein.
4. Supportive Management
Die Führungskraft unterstützt den Projektleiter und das Team. Sie befähigt das Team zur Selbstorganisation und steht im Hintergrund bereit, um bei Bedarf zu helfen.
5. Iterate to Wow
Begeistern Sie Kunden. Erzeugen Sie beispielsweise einen Prototypen, der erlebbar ist und nähern Sie sich dann schrittweise iterativ der gewünschten Lösung.
6. Kundennutzen
Echter Nutzen schafft langfristige Kundenbindung. Dabei geht es weniger um das perfekte Produkt als um den perfekten Match von Produkt- oder Dienstleistung zu den individuellen Bedürfnissen und Anforderungen des (internen oder externen) Kunden.
7. Übergreifende Abstimmung
Es gibt nur wenige Projekte, die ohne Koordination mit anderen Teams, der restlichen Organisation oder den Fachabteilungen umgesetzt werden können. Die Schnittstellen des Projektes mit dem Rest der Organisation professionell zu managen ist eine hohe Führungskunst, aber vermeidet bzw. verringert bestmöglich ungeplante Störfaktoren.
Fazit
Es gibt keinen Widerspruch zwischen „klassischem“ und „agilem“ Projektmanagement. Vielmehr müssen diese beiden Ansätze je nach Projekt und Rahmenbedingungen adaptiv kombiniert werden. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, dass Unternehmen ihre Rahmenbedingungen ändern müssen, um Projektmanagement 4.0 zu ermöglichen. Wichtig sind eine offene Kultur und die Bereitschaft des Managements, selbstorganisierte und autonom arbeitende Teams zuzulassen.
Weitere Informationen finden Sie in unserer Studie „Projektmanagement 4.0 – Wie verändert sich die Welt des Projektmanagements?“. Die etwa 100 Seiten umfassende wissenschaftliche Arbeit kann kostenlos heruntergeladen werden.
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