Start with the I – Radical Collaboration und psychologische Sicherheit als Schlüssel zur gelingenden Transformation

Das Mindset und die Unternehmenskultur bilden die Grundlage für erfolgreiche Transformationen. Aber welche Faktoren beeinflussen die Kultur und wie können Führungskräfte aktiv dazu beitragen, ihre Mitarbeitenden auf anstehende Veränderungen vorzubereiten? Was hat psychologische Sicherheit mit Hochleistungsteams zu tun? Antworten auf diese Fragen erhalten Sie in diesem Tiba Magazin Artikel von Dan-Felix Sorgler.

– Tiba Magazin 2021 –

Agiles Mindset und Kultur müssen gelebt werden

In den letzten Jahren folgen immer mehr Firmen dem “Agilitäts-Trend “– Sie führen neue Methoden und Rollen ein und geben ihren Teams mehr Freiraum. Dabei stellen viele Unternehmen zunehmend fest, dass die erwarteten Erfolge (flexibleres Eingehen auf Kundenwünsche oder Marktveränderungen, Abbau von Silodenken usw.) trotzdem ausbleiben.
Ein Standortleiter aus dem Automotive-Bereich, mit dem wir aktuell eng zusammenarbeiten, ist seit 2018 aktiv dabei, seinen Standort auf „agil“ umzustellen – methodisch und in Bezug auf das Mindset. Er wünscht sich, dass seine Mitarbeitenden gerne und freiwillig arbeiten, sich stärker selbst organisieren und sich aktiv einbringen.

Was meinen Sie? Warten Mitarbeitende, die jahrelang in sehr engen Prozessen arbeiten mussten und stark hierarchisch geführt wurden, nicht darauf, endlich mehr selbst denken und aktiver mitgestalten zu dürfen? Die Antwort lautet leider in sehr vielen Fällen: nein.

Start with the I – New Work needs inner Work

Dr. Joana Breidenbach und Bettina Rollow machen in ihrem Buch „New Work needs Inner Work“ (2019) deutlich, dass mit dem Wegfall äußerer Strukturen (langfristig stabile Strategien, politische und wirtschaftliche Sicherheit, klare Vorgaben von „wissenden“ Chefs…) die Notwendigkeit besteht, innere Strukturen aufzubauen – sprich, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln, um auch in unsicheren Situationen konstruktiv gelassen zu bleiben und nicht in den Panikmodus zu wechseln.
In der Vergangenheit wurden Veränderungsprozesse in der Regel nur über das „Sichtbare“ oder auch „Äußere“ gestaltet – über Änderungen der Struktur, Prozesse, Methoden, Verhaltensweisen sowie des Führungsstils. Ganzheitliche Modelle, wie das Tiba Achsenkreuz-Modell oder die vier Quadranten der integralen Theorie von Ken Wilber, verweisen jedoch darauf, dass es ebenso wichtig ist, das „Unsichtbare“/ „Innere“ einer Organisation mitzudenken, nämlich die Unternehmenskultur sowie das Mindset von Führungskräften und Mitarbeitenden. Wir brauchen Menschen, die mitdenken, eigenverantwortlich handeln und auch in herausfordernden Situationen noch gut zusammenarbeiten können. Kurz: wir brauchen ein anderes Mindset. Die bewusste Arbeit an Mindset und Kultur ist weder „esoterischer Hokuspokus“ noch unmöglich – Sie ist vielmehr die Grundlage für eine erfolgreiche Transformation.
Unsere These lautet daher: „Start with the I” – fange mit dem Ich an. Wenn Führungskräfte und Mitarbeitende keinen Mut und keine Lust auf Veränderung haben, scheitert die Transformation, bevor sie überhaupt beginnt.

Drei Klimazonen als Orientierung

Ein möglicher Weg, um Mindset und Kultur proaktiv zu gestalten, ist „Radical Collaboration®“ nach Tamm & Luyet (2019). Dieser Ansatz zeigt auf, welche Fähigkeiten essenziell sind, um kulturelle Veränderungen bewirken zu können. Im Kern des Ansatzes werden drei „Klimazonen“ unterschieden, die in jedem Unternehmen vorkommen. Jede einzelne Person innerhalb der Organisation kann aktiv dazu beitragen, die Kultur mitzugestalten.

Radical Collaboration

Abbildung 1: Darstellung nach Tamm & Luyet (2019) von Mona Nielen und Dan-Felix Sorgler

  1. Die „rote Zone“ beschreibt einen offen aggressiven Umgang miteinander. Man beschuldigt sich gegenseitig, macht sich Vorwürfe, Wut wird offen ausgelebt. Hält dieser Zustand über eine längere Zeit an, entsteht immer mehr Misstrauen. Rotes Verhalten, v.a. bei Führungskräften, setzt die Mitarbeitenden stark unter Druck und erzeugt Angst, sich offen zu zeigen – das Gegenteil von psychologischer Sicherheit entsteht. Die Mitarbeitenden werden dann entweder selbst immer aggressiver oder ziehen sich innerlich zurück, um sich selbst zu schützen und sagen einfach nicht mehr, was sie wirklich denken oder bewegt.
  2. Die „pinke Zone“ meint einen Umgang miteinander, der zwar vordergründig nett ist und nach außen auch harmonisch wirken kann, der jedoch nicht ehrlich ist. Die Mitarbeitenden sind nett zueinander, bestimmte Wahrheiten werden aber nicht ausgesprochen. Dieses „pinke“ Verhalten ist v.a. in Organisationen stark verbreitet, die respektvoll miteinander umgehen möchten. Was gut gemeint ist, erzeugt mit der Zeit jedoch ein immer Klima, welches den Menschen lähmt. Die „Minenfelder“, über die nicht gesprochen wird, werden immer größer; der Unmut über dieses oder jenes Verhalten wächst, und es kommt häufig zur Grüppchen-Bildung. Während das Klima also scheinbar harmonisch ist, besteht wenig innere Nähe und der Umgang miteinander lässt sich auch als passiv-aggressiv beschreiben. Äußere Anzeichen davon sind z.B. geringe Verbindlichkeit, nicht-eingehaltene Absprachen oder kein Vorankommen in den Themen.
  3. Die „grüne Zone“. Hier werden Konflikte offen und respektvoll angesprochen. Während es in der roten Zone subtil darum geht, wer Recht hat oder besser bzw. schlechter ist und in der pinken Zone alles vermieden wird, was diese Themen aufbringen könnte, ist die Grundhaltung im grünen Bereich „ich bin ok – du bist ok“. Es geht also nicht ums Kämpfen, jedoch um die Anerkennung unterschiedlicher Bedürfnisse und Perspektiven. Auf Grundlage wechselseitiger Wertschätzung können angemessene Auseinandersetzungen geführt, schwierige Themen konstruktiv miteinander besprochen und neue kreative Lösungen gefunden werden. Dies setzt ein hohes Maß an Vertrauen ineinander voraus – zugleich wächst das gegenseitige Vertrauen, wenn erlebbar wird, dass es im Team und in der Organisation möglich ist, offen mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen. Man spricht dann von „psychologischer Sicherheit“ (Edmondson, 2020). Damit ist gemeint, dass es sich für alle Beteiligten sicher anfühlt, sich verletzlich zu zeigen und die eigene Perspektive einzubringen.

So einfach das klingen mag, so schwierig ist ein dauerhaftes Aufrechterhalten der grünen Zone. Wenn Sie jetzt denken, dass in Ihrem Umfeld fast immer im grünen Modus gearbeitet wird, könnte es sein, dass Sie sich gerade in der pinken Zone befinden.
Wann welches Verhalten zum Vorschein kommt, hängt jedoch auch stark von den einzelnen Führungskräften und Teammitgliedern und deren Sozialisation sowie anderen persönlichen Prägungen ab. Wer das Thema „Umgang mit Konflikten“ nicht irgendwann bewusst für sich bearbeitet hat, übernimmt beispielsweise häufig Konfliktstile aus der eigenen Herkunftsfamilie. In manchen Familien wird lautstark gestritten, in anderen werden Konflikte vermieden und gar nicht besprochen und in manchen Familien werden Konflikte konstruktiv und offen besprochen. Dieses Erbe bringen die Menschen in ihr Unternehmen mit. Auch deswegen kann es hilfreich sein, mit diesem oder ähnlichen Modellen zu arbeiten und transparent darüber zu sprechen, wie im Team mit Konflikten und unterschiedlichen Bedürfnissen umgegangen wird, welcher Umgang miteinander erwünscht ist. Eine Frage kann sein: „Wie gelingt es uns möglichst oft, in der grünen Zone zu agieren? Wie kommen wir möglichst gut wieder dorthin, wenn wir emotional werden oder uns nicht trauen, miteinander ehrlich zu sein?

Psychologische Sicherheit als wichtigste Voraussetzung für Hochleistungsteams

Das Konzept der „psychologischen Sicherheit“ ist ein Indikator für eine grüne Unternehmenskultur. Auch in der Wissenschaft wird der Aspekt zunehmend aufgegriffen und erforscht.

Psychologische Sicherheit

Abbildung 2: Eigene Darstellung nach re: Work

Im Jahr 2016 führte Google mit dem Forschungsprojekt „Aristoteles“ eine großangelegte Studie mit 180 Teams durch, um das Geheimnis von Hochleistungsteams zu lüften. Diese Erhebung kam zu dem Ergebnis, dass der wichtigste Faktor für das Entstehen von Hochleistungsteams nicht etwa die Ausbildung der Mitglieder, die Diversität oder die strategische Klarheit ist, sondern die sogenannte „psychologische Sicherheit“: Wenn Mitarbeitende psychologische Sicherheit erfahren, fühlen sie sich sicher, Risiken einzugehen oder auf Risiken hinzuweisen, Fehler einzugestehen und eigene Fragen sowie Unsicherheiten offen zu zeigen. Ist dies der Fall, scheinen Teams deutlich schneller zu lernen, sich besser abzustimmen und sich auf neue Situationen einstellen zu können (re:Work, 2016).
Demgegenüber steht eine Kultur, in der Mitarbeitende z.B. ihren Vorgesetzten nicht ehrlich sagen, was sie denken und wahrnehmen. Für Firmen ist es heute essenziell, eine offene Kultur des Lernens und des Muts, anstatt einer Kultur des Schweigens und Sich-Anpassens zu entwickeln.
Vielleicht denken Sie jetzt, dass es in Ihrem Umfeld natürlich sicher ist und niemand Angst zu haben braucht. Sowohl Studien als auch unsere eigene Erfahrung in vielen Unternehmen zeigen jedoch deutlich, dass nicht nur viele Mitarbeitende, sondern auch Führungskräfte vor allem in stressigen Situationen häufig stark verunsichert sind, Angst haben, bloßgestellt zu werden oder sich von Kritik an einem Projekt oder eines Prozesses persönlich angegriffen fühlen.

Vier Wege, um als Führungskraft für psychologische Sicherheit zu sorgen

Was können Sie als Führungskraft tun, um die psychologische Sicherheit in ihrem Umfeld zu erhöhen?
(Angelehnt an Amy Edmondson (2020) vier praktische Tipps für den Führungsalltag)

  • Aufgaben als Lernproblem definieren
    Wenn Sie jemandem eine Aufgabe geben und einfach nur zur Umsetzung auffordern, kann das Druck und Stress erzeugen. Wenn Sie die gleiche Aufgabe jedoch als „Lernproblem“ darstellen – also etwas, das es neu zu entdecken gilt – steigert dies in der Regel die Motivation, den Mut, Neues auszuprobieren und nimmt die (übermäßige) Angst, Fehler zu machen.
    Sagen Sie beispielsweise anstatt „Schließen Sie das Projekt bis nächsten Mai ab“ lieber „Wie kann es uns gelingen, dieses Projekt bis nächsten Mai erfolgreich abzuschließen?“
  • Echtes Interesse zeigen
    Hand aufs Herz: Wissen Sie, was Ihre Mitarbeitenden wirklich dazu bewegt, etwas zu tun oder es nicht zu tun? Wenn Sie sich nicht nur für die Leistung Ihrer Mitarbeiter:innen, sondern auch für deren Persönlichkeit, Gedanken, Gefühle und Motivatoren interessieren, fühlen diese sich von Ihnen stärker gesehen und als Menschen ernst genommen. Auch wenn manche es nicht zugeben, sich von anderen wahrgenommen zu fühlen ist einer der stärksten Motivatoren von Menschen und steigert die Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen respektvoll und konstruktiv Probleme zu lösen.
  • Eigene Fehler und Unsicherheiten eingestehen
    Ihre Mitarbeitenden werden sich Ihnen nicht öffnen, solange Sie scheinbar immer alles richtig machen, alles unter Kontrolle haben und nie emotional werden. Auch wenn es ungewohnt ist und in manchen Umfeldern merkwürdig erscheinen mag: je offener Sie mit Ihren eigenen Fehlern umgehen, wenn Sie eigene Unsicherheiten ansprechen, dann geben Sie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern damit das klare Signal, dass auch sie nicht perfekt sein müssen. Fehler und Probleme können so viel leichter besprochen und daraus gelernt werden – was letzten Endes dazu führt, dass weniger (vermeidbare) Fehler gemacht werden.
  • Räume für Begegnung und echten Kontakt
    Dass die wichtigsten Gespräche häufig in der Teeküche stattfinden, ist ein offenes Geheimnis. Mit Corona und Home Office sind die meisten informellen Begegnungsmöglichkeiten jedoch weggefallen. Wenn überhaupt, sehen die meisten Menschen ihre Teams nur noch in virtuellen Konferenzen – die meistens fachlicher Natur sind. Auch wenn jetzt immer mehr Menschen wieder ins Büro kommen – das bewusste Gestalten von Möglichkeiten, sich informell zu begegnen und abseits des getakteten Arbeitens relevante Gespräche zu führen, kann als eine der wichtigsten Aufgaben für moderne Führungskräfte angesehen werden. Eine einfache Möglichkeit, die viele unserer Kunden in der Corona-Zeit begeistert hat und bis heute weiterlebt: das virtuelle Feierabend-Bier.

Fazit

Im heutigen Arbeitsumfeld genügt es nicht mehr, fachlich exzellent zu sein und Prozesse zu optimieren. In komplexen, dynamischen Umfeldern braucht es besonders von Führungskräften die Bereitschaft, auf sich selbst zu schauen und die psychologische Seite von Führung zu erlernen. Wie kann ich gelassen bleiben, wenn es um mich herum stürmt? Wie gehe ich so mit kritischem Feedback um, dass ich auch weiter wichtige Rückmeldungen erhalte? Wie schaffe ich ein Umfeld, in dem Mitarbeitende mutig sind und immer mehr Verantwortung übernehmen? Die hier aufgezeigten Beispiele können erste Anhaltspunkte sein. Es gibt viele Wege, aber alle starten mit der ehrlichen Bereitschaft, Probleme nicht nur „im Außen“ lösen zu wollen.

Mein Tipp zum Weiterlesen. „New Work needs Inner Work “von Joana Breidenbach und Bettina Rollow.

 

Die gesamte Tiba Magazin Ausgabe 2021

Die Tiba Magazin Ausgabe dreht sich um die Themen Leadership und Corporate Culture 4.0 – Wie Organisationen Digitalisierungs- und Transformationsprojekte erfolgreich gestalten. Sie können die gesamte Tiba Magazin Ausgabe 2021 jetzt kostenlos herunterladen.

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Literaturverzeichnis

Breidenbach, J., & Rollow, B. (2019). New Work needs Inner Work: Ein Handbuch für Unternehmen auf dem Weg zur Selbstorganisation . München: Verlag Franz Vahlen.

Edmondson, A. (2020). Die angstfreie Organisation: Wie Sie psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz für mehr Entwicklung, Lernen und Innovation schaffen. München: Verlag Franz Vahlen.

re:Work. (2016). Guide: Understand team effectiveness.

Tamm, J., & Luyet, R. (2019). Radical Collaboration, 2nd Edition: Five Essential Skills to Overcome Defensiveness and Build Successful Relationships. Harper Business.

 

Autor:in

Portrait Autor

Dan-Felix Sorgler

Dan-Felix Sorgler begleitet seit 2011 Unternehmen in der Transformation. Er ist zertifizierter Radical Collaboration®-Trainer, hat „Wirtschaft neu denken “(BWL, Philosophie und Kunst) studiert, mehrere eigene Organisationen aufgebaut und ist seit 2015 freiberuflich für die Tiba aktiv – insbesondere dann, wenn es um Kulturwandel und Führungskräfte-Entwicklung geht.