Feintuning an der Performance reicht nicht mehr – Wie die deutschen Anlagenbauer den Turnaround schaffen können

Der deutsche Maschinen- und Anlagenbau gilt in der Welt als Markenzeichen für Qualität – auch in China. Aber frisch und energiegeladen arbeitet die Konkurrenz aus Fernost daran, uns den Rang abzulaufen. Was müssen wir tun, um weiter in der ersten Liga zu spielen? Anregungen dazu gibt Frank‐Peter Ritsche im Interview. Auch in seinem Vortrag auf den PM-Tagen 2019 wird er darauf eingehen. Ritsche ist seit 25 Jahren in der Branche zu Hause und kennt sie aus der Perspektive mehrerer Konzerne, wo er in führenden Positionen tätig war.

Herr Ritsche, was macht den Anlagenbau so konservativ?

Frank-Peter Ritsche: Da gibt es mehrere Faktoren. Zunächst einmal ist Folgendes ein Kennzeichen des Anlagenbaus: ein ausgesprochen zyklisches Geschäft mit extremen Höhen und Tiefen. Ein solches Geschäftsmodell hat es schwer, sich auf dem Aktienmarkt Kapital zu beschaffen. Anleger mögen keine solch extremen Zyklen. Zum anderen gibt es im Anlagenbau sehr hohe Umsätze – aber aktuell sehr kleine Margen. Insofern bleibt im Tagesgeschäft seit Jahren nicht wirklich viel Geld für Investitionen übrig. Daher wird eben auch nicht viel in Forschung und Entwicklung gesteckt, jedenfalls im Vergleich zu anderen Industrien, die deutlich innovativer sind. Und wenn tatsächlich mal Investments in neue Technologien getätigt werden, dann ist das im Anlagenbau häufig sehr risikobehaftet. Wir sind nun mal kein Massenmarkt. Es ist etwas anderes, wenn ich als Automobilbauer Milliarden in die Entwicklung investiere – zum Beispiel in die eines Elektroautos. Dort wartet ein anderer Markt dahinter, als wenn zum Beispiel ein Kernkraftwerksbetreiber sehr, sehr viel Geld in ein neues Reaktorkonzept steckt, das hinterher nicht funktioniert oder das vielleicht nur einmal verkauft wird.

Und so ist der mit Investitionsmitteln dürftig ausgestattete Anlagenbau typischerweise unterwegs: Lieber Rückzug auf das vermeintlich Bewährte, keine Risiken eingehen, weil das Geschäft sowieso schon risikobehaftet genug ist. Und deswegen tun wir uns schwer, Innovationen voranzutreiben.

Wie ändern sich die Geschäftsmodelle der Anlagenbauer gerade?

Ritsche: Die Antwort ist: nicht wirklich fundamental, und das ist das Problem. Eine Tendenz, die man im Moment sieht, ist, dass viele Anlagenbauer das Servicegeschäft wieder neu entdecken. Das ist aber auch nichts fundamental Neues. Was zu beobachten ist, jetzt speziell auch hier in Deutschland, ist, dass sich viele Anlagenbauer eher von den Großprojekten weg mehr in Richtung mittlere und kleine Projekte orientieren.

Was auch diskutiert wird, ist natürlich das Thema Digitalisierung. Ich war vor kurzem auf dem Engineering Summit des VDMA. Dort wurde die Frage gestellt: „Wie viel zusätzliches Geschäft macht ihr durch Digitalisierung?“ Das geht völlig am Thema vorbei. Digitalisierung muss das Kerngeschäft unterstützen. Aber Digitalisierung als Selbstzweck wird nicht im wesentlichen Maße zusätzliches Geschäft generieren oder neues Geschäftsmodell der Anlagenbauer werden.

Ein weiterer Punkt ist: Viele Anlagenbauer hier in Deutschland sind technologiegetriebene Unternehmen. Sie fühlen sich wohl im Engineering und sind auch erfolgreich darin, ihre Technologie weltweit zu verkaufen. Sie sind aber häufig nicht sonderlich erfolgreich im Bereich Construction. Was ich im Moment zunehmend beobachte, ist, dass solche Unternehmen jetzt Beratung suchen: Wie können wir unsere EPC-Fähigkeit verbessern bzw. aufbauen und wie können wir den Bereich Construction stärken? Diesen Unternehmen möchte ich zurufen: „Schuster bleib bei deinen Leisten, fokussiert euch lieber auf eure Kernkompetenz, fokussiert euch auf eure Technologien und geht im Zweifelsfall dann lieber Partnerschaften mit anderen Playern ein, die in den anderen Feldern, insbesondere im Bereich Construction oder Projektmanagement, professioneller aufgestellt sind.“ Fazit: Aktuell ändern sich die Geschäftsmodelle punktuell, die Veränderungen sind aber nicht wirklich revolutionär.

Was muss der Anlagenbauer tun, um innovativer und produktiver zu werden?

Ritsche: Unsere Antwort betrifft nicht nur den Anlagenbauer, sondern die gesamte Wertschöpfungskette. Das heißt, vom Anfang der Kette her den Betreiber und die Investoren und zum Ende der Kette die Supply Chain zu betrachten und wie alle miteinander zusammenspielen.

Wenn wir von anderen Branchen lernen wollen, dann geht das eben über das gesamte Zusammenspiel der Player in dieser Wertschöpfungskette. Wir betrachten Referenzen zum Beispiel aus dem Infrastrukturbereich, aus Verkehrsprojekten. Wir schauen in die Automobilindustrie. Wir schauen in die Flugzeugindustrie. Es gibt immenses Potenzial, zum Beispiel die Transaktionskosten zu senken. Dies geschieht dadurch, dass man etwa die Supply Chain flacher macht, also diese Vertragspyramide einebnet, wo Investoren Verträge vergeben an Betreiber, Betreiber an EPC-Kontraktoren, diese an ihre Lieferantenkette, und weiter an Subkontraktoren und Sublieferanten. Dort wird überall viel Geld verbrannt durch die hohe Anzahl von Verträgen, durch doppelte und dreifache Risiko-Contingencies, die kalkuliert werden, durch dreifach oder vierfach gespiegelte Projektorganisationen. Im Zusammenspiel der gesamten Wertschöpfungskette kann man sehr viel Kapital einsparen. Außerdem geht es darum, Fehlleistungskosten zu reduzieren, die immens sind in unserem Geschäft. Da gibt es diverse Studien von McKinsey, PwC und anderen, die Beträge in gigantischen Größenordnungen ermittelt haben, wie viel Geld durch katastrophale Projektabwicklung verloren geht. Nicht zuletzt geht es um die Erhöhung der Produktivität. Wir sind in den letzten 20 Jahren nicht wirklich signifikant produktiver geworden, während andere Industrien, wie zum Beispiel die Automobilindustrie, im gleichen Zeitraum ihre Arbeitsproduktivität nahezu verdoppelt haben. Diese Produktivitätslücke gilt es zu schließen.

Sehen Sie einen Weg, dass das auch passieren kann?

Ritsche: Den Weg sehen wir: nicht isoliert für den einzelnen Anlagenbauer. Den Schlüssel haben der Investor und der Auftraggeber, der Betreiber einer Industrieanlage, in der Hand, der ganz am Anfang bereits die Weichen stellt, wie er sein Projekt ausschreibt und wie er sein Projekt dann abwickeln möchte. Der klassische Weg ist nach wie vor, eine schlüsselfertige Anlage zum Festpreis zu vergeben. Aber damit baue ich von vornherein Fronten auf und schaffe Silos zwischen dem Anlagenbetreiber, also dem Auftraggeber, sowie dem EPC-Contractor und der ganzen Supply Chain als Auftragnehmer. Wir können von anderen Industrien lernen. Zum Beispiel gibt es im Infrastrukturbereich Modelle, um Verträge anders abzuschließen, etwa über Alliance-Verträge, über Integrated Project-Delivery-Modelle. Das sind Vertragsmodelle, in denen Projektteams der verschiedenen Beteiligten im Projekt partnerschaftlich zusammenarbeiten, wo weniger Governance stattfindet, wo viel Vertrauen erforderlich ist. Und mit solchen Modellen ist es in der Tat aus unserer Sicht möglich, über die gesamte Wertschöpfungskette bis zu 50 Prozent CAPEX einzusparen.

Warum wird das jetzt nicht gemacht?

Ritsche: Teilweise, weil es unbekannt ist. Im Anlagenbau kommt das erst ganz langsam an. Aber es gibt erste Referenzen aus dem Anlagenbau, wo solche Modelle ausprobiert werden. Im Infrastrukturbereich existieren solche Referenzen seit 10 oder 15 Jahren mit unterschiedlichem Erfolg. Der Infrastrukturbereich ist durch einen Lernprozess gegangen, aber dort wurde das Thema viel stärker vorangetrieben, weil teilweise öffentliche Auftraggeber dahinterstehen. Im Anlagenbau beginnt das Nutzen solcher Modelle erst.

Ausschlaggebend für den Erfolg ist dabei weniger das Organisationsmodell, der Prozess oder der Vertrag – vielmehr ist es die Einstellung, der Cultural Change derer, die zusammenarbeiten. Wir sind im Anlagenbau in den letzten 30 Jahren durch das Lagerdenken geprägt worden: dort Auftraggeber, der ist der Gegner, und hier Auftragnehmer, die andere Gegenseite. Dazwischen kämpfen wir um jeden Quadratmeter mit Claims. Diese Attitude ist tödlich für unsere Projekte, dies müssen wir überwinden. Und das sind auch die Lessons Learned aus 15 Jahren solcher Experimente im Infrastrukturbereich. Die Projekte, die erfolgreich gewesen sind, haben es geschafft, diesen Cultural Change in ihren Projekten und in ihren Organisationen hinzubekommen. Diejenigen, die gescheitert sind, sind genau daran gescheitert, dass man zwar die Verträge geändert hat, aber in den Köpfen die alte Einstellung geblieben ist.

Das spannt den Bogen zu anderen Vorträgen auf den PM-Tagen.

Ritsche: Viele betonen immer wieder die Verhaltensänderungen, die erforderlich sind. Ich besuche sehr viele Konferenzen. Dort wird das gerade auch von Betreiberseite immer wieder hochgehalten. Im Tagesgeschäft wird es aber immer noch nicht wirklich gelebt, weil das mittlere Management dort noch nicht angekommen ist.

Warum geht das nicht?

Ritsche: Das ist organisatorisch bedingt. Und das ist vielleicht eine Antwort auf die Frage: Ist dies das Zeitalter der Projektmanager? Antwort: klarer Fall, ja. Wir leben in vielen Firmen nach wie vor in der Linienorganisation, und wir schaffen den Übergang in eine projektgetriebene Organisation nicht. Es ist de facto aber so, dass Profit und Loss bei den Anlagenbauern in den Projekten gemacht wird. Dort wird der Erfolg erwirtschaftet oder eben auch nicht. Wir haben gute Projektleiter. Was wir aber nicht haben, ist, dass die Firmen ihre Organisationsstrukturen entsprechend aufbauen. Dass Vertrauen in die Projektleiter gesetzt wird, dass man tatsächlich den Projektleiter als CEO of the Project definiert und tatsächlich die Entscheidungswege auch über die Projekte laufen lässt und nicht über eine Linienorganisation.

Und damit geht auch einher: Welche Stellung hat ein Projektleiter in einem Unternehmen? Welche Stellung hat ein Linien-CEO in einer Konzernorganisation, der Profit-und-Loss-Verantwortung für einen Milliarde Jahresumsatz hat, und welches Jahresgehalt bezieht er? Welche Stellung hat ein Projektleiter, der ein Projekt mit einem Umsatz von einer Milliarde verantwortet, und welches Gehalt bezieht er? Da sind Welten dazwischen. Die Profit-und-Loss-Verantwortung ist die gleiche. Die Risiken für das Unternehmen sind manchmal in den Projekten wesentlich höher als im normalen operativen Geschäft. Es muss also auch eine Aufwertung der Stellung des Projektleiters erfolgen. Und deswegen propagiere ich für projektgetriebene Organisationen, wo tatsächlich die Profit-und-Loss-Verantwortung direkt durch die Projektleiter und durch die Projektorganisation zur Unternehmensspitze geht.

Da wird sich das ganze mittlere Management gegen sperren, weil es dann ja überflüssig ist!

Ritsche: Natürlich ist es nicht überflüssig, nur weil es keinen Profit und Loss mehr verantwortet. Die Linienfunktionen haben eine Verantwortung als Ressourcenpools oder als Kompetenzzentren. Das würde ich jetzt nicht als überflüssig bezeichnen. Es ist eine unternehmensstrategisch extrem wichtige Position, in der Linie dafür zu sorgen, dass die richtigen und die guten Ressourcen zur Verfügung stehen. Denn das ist das Kapital, das wir haben: das Know-How unserer Mitarbeiter. An der Stelle muss sehr viel getan werden, wenn wir hier zukunftsfähig aufgestellt werden wollen. Unser anderes Kapital sind die Technologien. Diese entstehen nicht im Projekt, sie werden lediglich im Projekt angewendet. Die Technologien müssen in der Linienorganisation entwickelt werden.

Mitarbeiter und Technologien sind beide strategisch wichtig und sollten in der Linie verantwortet werden. Aber: Weil der Gewinn oder der Verlust im Anlagenbau in Projekten erzielt wird, sollte dort die Profit-und-Loss-Verantwortung aufgehängt werden. Was nicht die Linienorganisation überflüssig macht!

Was können Ihre Zuhörer von dem Vortrag mitnehmen?

Ritsche: Ich möchte bei den Zuhörern das Bewusstsein wecken, dass wir in den nächsten fünf Jahren extreme Veränderungen auf dem Anlagenbaumarkt sehen werden. Ein „Weiter so“ wird es nicht geben, dazu wird allein schon die sehr starke Konkurrenz aus Asien, insbesondere aus China sorgen. Und was ich den Zuhörern zurufen möchte ist: Wer erfolgreich auf diesem Anlagenbaumarkt unterwegs sein möchte – ganz besonders auch hier in Deutschland –, der wird sich damit auseinandersetzen müssen, inwieweit er tatsächlich radikale Ansätze verfolgen sollte. Denn mit reinem Feintuning an der Performance oder einem „Weiter so“ werden die deutschen Anlagenbauer zumindest nicht nachhaltig aufgestellt sein. Es wird vielleicht dem einen oder anderen gelingen, noch eine Reihe von Jahren durchaus auch wieder etwas Profit zu machen, wenn der Markt jetzt wieder anzieht. Aber spätestens, wenn wieder die nächste konjunkturelle Talfahrt ansteht, ist der letzte Anlagenbauer, der immer noch nach den alten Geschäftsmodellen arbeitet, weg vom Markt. Wer sein Unternehmen tatsächlich nachhaltig aufstellen möchte, der sollte sich jetzt und heute mit innovativen Modellen auseinandersetzen.

 

Kurzbiografie

Als Project Director im internationalen Großanlagenbau verantwortet Frank-Peter Ritsche das Engineering, die Beschaffung und Errichtung von schlüsselfertigen Chemieanlagen. Der studierte Maschinenbauer ist Gründer des „ProjectTeam® Global Expert Network“ und Herausgeber des „Project Management Handbook for EPC“. Außerdem hat er zusammen mit der Tiba und anderen Partnern die Gemeinschaftsstudie*) „Innovation project EPC 4.0 – Unleashing the hidden potential“ verfasst, die im April veröffentlicht wird.

*) „EPC 4.0“ ist eine Gemeinschaftsstudie von ProjectTeam®, TIBA, maexpartner, m8International und d1g1tal AGENDA

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